Es gibt Punkte in der Geschichte, an denen sich kurzfristige Interessen und langfristige Trends auf eine interessante Weise kreuzen. Dieses Wochenende ist so ein Moment: Im Kongress hat Präsident Barack Obama eben einen Plan vorgelegt, der die Wirtschaft ankurbeln und nebenbei seine Wiederwahl sichern soll. Und am Sonntag werden die Vereinigten Staaten zum zehnten Mal der Opfer der Terrorattacken vom 11. September 2001 gedenken.

Was beides miteinander zu tun hat? Viel mehr, als auf den ersten Blick scheint.

Nach 1989 haben die USA ihren Sieg im Kalten Krieg dramatisch missinterpretiert. In den 1990ern versäumten es George Bush der Ältere und Bill Clinton, die politische Friedensdividende nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion einzustreifen. Nach der Zäsur von 9/11 wandte George W. Bush enorme Finanzmittel und Energie dafür auf, die Verlierer der Globalisierung zu jagen, statt deren Gewinnern zu folgen. 1700 Milliarden Dollar, das sind mehr als zehn Prozent der gesamten US-Staatsverschuldung, sind seither für die Kriege in Afghanistan und Irak sowie die Sicherung des "Homelands" ausgegeben worden. Gleichzeitig kann die Infrastruktur des immer noch mächtigsten Landes der Welt inzwischen kaum noch mit jener in Schwellenländern mithalten.

Auch wenn viele heute fröhlich behaupten, der Terroranschlag von 2001 habe keinerlei Konsequenzen gehabt, ist es evident, dass die Jahre nach 9/11 das Land grundlegend geändert haben. In den zehn Jahren nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums haben es sich die Vereinigten Staaten lediglich zu gemütlich gemacht, die Bush-Ära danach waren dagegen verlorene Jahre. Mit der Börsenblase von 2008 zerplatzte der amerikanische Traum endgültig. Und Präsident Obama war bisher, trotz gelegentlich erhebender Rhetorik, nicht in der Lage, ihn zu reanimieren.

Vom Wandel, den er versprochen hat, war in den ersten drei Jahren seiner Präsidentschaft keine Spur. Im Gegenteil: Er ist vom Hoffnungsträger vieler Amerikaner, die das unbestimmte Gefühl hatten, ihre Gesellschaft müsse sich nun nach vielen bleiernen Jahren konservativer Politik endlich neu erfinden, zum Verwalter des Mangels geworden.

Dieser Mangel stellt sich für viele Millionen US-Bürger ökonomisch dar. Viel schwerer wiegt allerdings, dass die Vereinigten Staaten gut 200 Jahre nach ihrer Gründung erstmals nicht wissen, was sie mit sich anfangen sollen. Es fehlt an Vision und Mission - so sehr, dass bereits missmutig betitelte Bücher erscheinen, die auch keine Therapie zum Befund anbieten können: "Das waren einmal wir" , nennen etwa New York Times-Kolumnist Thomas Friedman und Michael Mandelbaum ihr eben publiziertes Werk.

Aus dieser Perspektive ist es relativ belanglos, ob Obama vom Kongress 300, 447 oder 800 Milliarden Dollar für Konjunkturprogramme will. Der Präsident hat in seinem Paket etwas für alle Wähler untergebracht und sich damit, ob das Gesetz nun durch den Kongress kommt oder nicht, leidlich gut in Stellung für den Wahlkampf gebracht. Gleichzeitig ist der Mann, der Hope und Change versprach, schon lange Teil jenes Stillstandes in Washington geworden, der zum politischen Ausdruck einer umfassenden amerikanischen Verzagtheit geworden ist.

Auch diese wird an diesem Wochenende in New York betrauert werden. Und niemand wird darüber sprechen. (DER STANDARD, Printausgabe, 10./11.9.2011)